Paris, die Stadt der Liebe. Hunderte von Brücken verbinden ihre beiden Stadthälften, die durch die Seine getrennt sind. So auch die Fußgängerbrücke Pont des Arts. Nicht ohne Grund werden an ihre Brüstung tausende Vorhängeschlösser gehängt, vor allem am Valentinstag. Zwei zuvor getrennte Menschen kommen zusammen, verbinden sich und bringen ihre Sehnsucht nach ewig währender Liebe zum Ausdruck. Der Schlüssel versinkt in den Fluten der Seine. Und doch trennen sich viele dieser meist jungen Paare nach kurzer oder langer Zeit wieder. Was bleibt, sind nicht nur tausende von Vorhängeschlössern, sondern eine Last, welche die Brüstung nicht mehr tragen kann. So brach am 8. Juni 2014 ein ca. 2,5 m langes Teilstück zusammen. Ein Symbol dafür, dass wir eine Sehnsucht nach Liebe verspüren, aber nicht die Fähigkeit besitzen, die Liebe zu leben.
Seit je tendiert der Mensch zur Befreiung seiner Sexualität aus den Begrenzungen der Moral. Er will Befriedigung erleben. U.a. ist dies schon immer das entscheidende Motiv, um Sexualität aus den festgesetzten Normen, wie der Ehe zwischen Mann und Frau, herauszulösen. Sexualität wurde so gleichsam zu einem Spielball der Lust, zu einem Trieb, dem scheinbar niemand entgehen kann, und der daher unser Verhalten und damit unsere gesellschaftliche Moral bestimmen muss.
Heute sind wir an dem Punkt, dass Sexualität frei sein muss, lösgelöst von allen Verpflichtungen. Letztlich löst auch die gängige Sexualpädagogik das Problem nicht. Auch dann nicht, wenn sie penibel auf die Unterweisung und Verwendung von Verhütungsmitteln fokusiert. Denn sie bleibt bei der Reduktion auf Aufklärung eher dem gesellschaftlich beschworenen Lustprinzip verhaftet. Ist Sexualität aber nicht mehr?
Eine Sexualpädagogik der Vielfalt lehrt uns heute, wie man lustgetrieben was wohin stecken und sich durch Verhütung unerwarteter Folgen entziehen kann. Wir lernen aber nicht, was einen jungen Menschen, was einen frisch verliebten oder einen jung oder schon länger verheirateten Menschen zu seiner Sexualität motivert, antreibt und beschäftigt. Innerhalb der Sexualtherapie hat man sich schon lange dieser inneren Motive angenommen. Denn wo die Sexualität in einer Partnerschaft zum stagnieren gerät, oder wo sich der Körper der Frau oder des Mannes der Sexualität biologisch verweigert, dort fragt man nach psychischen Motiven, vor allem dann, wenn keine sonstigen medizinischen Ursachen feststellbar sind.
Ist es nicht erschreckend, dass Untersuchungen nachweisen, dass bereits Jugendliche Sexualität zur Stabilisierung ihres Selbstwertes betreiben oder zur Überwindung von Beziehungsängsten? Und sollten wir uns angesichts der Tatsache, dass sich so viele junge Menschen in ihren sexuellen Orientierungen bis Anfang 20 noch verändern, nicht fragen: Was sind die psychischen Faktoren, die damit zusammenhängen?
Die Sexualpädagogik sollte daher die Frage stellen: Was motiviert zur Lust, und was genau sucht in der Sexualität seine Befriedigung? Könnte die Beantwortung dieser Frage den Menschen nicht sogar kompetenter für seine Sexualität und sein Leben machen?
Die Entwicklungssensible Sexualpädagogik© hat es sich u.a. zur Aufgabe gemacht, nach den Motiven in der Sexualität zu fragen. Sie hat entlang wissenschaftlicher Forschung entdeckt, dass junge Menschen zum Beipsiel ihre Identitätsfragen in die Sexualität einbringen.
So verhandeln junge Menschen nichts Geringeres in der Sexualität als Fragen ihres Mann- und Frauseins. Oder sie bringen Fragen und Unsicherheiten bezüglich der eigenen körperlichen Entwicklung ein. „Funktioniere ich richtig?“, „Bin ich körperlich normal?“
Oder sie verarbeiten über die Sexualität ihr neues Körpergefühl, das sich ihnen durch die starke körperliche Veränderung geradezu aufdrängt. Und schließlich müssen junge Menschen auch mit der Tatsache umgehen, dass die Möglichkeit der Sexualität ab der Pubertät die Beziehungen zwischen Mädchen und Jungs in ein völlig neues Licht taucht. Auch das wird u.U. über die Sexualität und alle Inszenierungen, die darin möglich sind, verhandelt. Es stimmt also: Sex is more!
Die Entwicklungssensible Sexualpädagogik© deckt aber nicht nur diese Zusammenhänge auf, sondern sucht Wege, wie junge Menschen pädagogisch in diesen Prozessen begleitet werden können. Denn von sexualtherapeutischer Seite ist schon lange klar: Je besser der Mensch seine psychischen Motive im Bereich der Sexualität erkennt, desto bewusster kann er damit umgehen und desto konfliktfreier ist seine Sexualität. Umgehen heisst dann aber nicht, dass der Mensch jedes psychische Motiv, das er in seiner Sexualität entdeckt, sexuell verwirklichen muss. Umgehen heisst dann vielmehr, dass der Mensch befreit wird, seine psychischen Motive auf vielen verschiedenen Wegen, zwischenmenschlich, emotional, beziehungsorientiert, kommunikativ usw. ins Leben zu integrieren. Und das ist gerade für den jungen Menschen von entscheidender Bedeutung. Denn er muss sein Leben im Kontext von Identität, Beziehung, Partnerschaft und Sexualität begreifen. Eine Reduktion von innerpsychischen Fragen auf die Sexualität schadet ihm.
Wird der junge Mensch aber emotional und zwischenmenschlich sprachfähig, dann besteht die Hoffnung, dass er nicht nur von einer vermeintlich lustgetriebenen Sexualität befreit werden kann, sondern dass er den Zusammenhang von Sexualität, Personsein und Bindung in sich versteht. Kehren wir zurück zur Brücke über der Seine: Könnte eine solche Sexualpädagogik nicht die Fähigkeit im Menschen erhöhen, Liebe wahrhaft zu leben? Und könnte dadurch nicht verhindert werden, dass eine falsch verstandene Liebe und lustzentrierte Sexualität Löcher in unsere Psyche, in unsere Familien, in unsere Gesellschaft reisst?
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch! Noch wahrscheinlicher aber ist, dass auf diesem Weg die Sexualpädagogik ihre eigentliche Aufgabe endlich erfüllen könnte: Junge Menschen wirklich bei der Integration von Sexualität in ihre Gesamtpersönlichkeit zu begleiten.